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Helmut Renöckl, Johannes Kepler Universität, Linz, Austria
     

„Was hält, was führt Europa zusammen? Interdisziplinäre Chancen und Herausforderungen der Wissenschaften“

Sehr  unterschiedliche Realitäten, komplizierte psychosoziale Lage.
Nachhaltige Konvergenz-Bemühungen brauchen Mindestkonsens über Koordinaten einer Europäischen Gesellschafts- und Wirtschaftsgestaltung. Hier viel Unklarheit und Dissens.
1. Der Kairos der Einigung Europas und die globale Krise fordern heraus
Historischer Umbruch 1989/90 hat Europa grundlegend verändert. Ein totalitäres Imperium hat sich ohne großen Krieg aufgelöst, zum ersten Mal ist eine Neugestaltung ganz Europas in Freiheit möglich.
Globale Finanz- und Wirtschaftssystemkrise trifft und frustriert die Transformationsländer stärker. Die Entgleisung des Finanz- und Wirtschaftssystems bewirkten nicht nur die unmittelbaren Akteure und Ursachen, dahinter stecken auch noch tiefere Probleme.
2. Die Entwicklung eines Europäischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells
Effizienzsteigerung durch Wissenschaften, Technik und Wirtschaft führten im 19. Jh. zur „Industriellen Revolution“ und zur „Sozialen Frage“. Fehlende Ausrichtung auf humane Ziele → gesellschaftliche Konflikte, nationalistische Instrumentalisierung → Kriege, Katastrophen
Nach Katastrophen gelangen nach 1945 Neuanfänge: Überwindung historischer Verfeindung, schrittweise Einigung Europas, neues Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell „Soziale Marktwirtschaft“, anders als US-amerikanische und asiatische Modelle.
Die Orientierung an „Sozialer Marktwirtschaft“ wurde schwächer und schwieriger durch interne Fehlentwicklungen und zunehmende grenzüberschreitende Vorgänge im Zuge der „Globalisierung“ und der Auflösung der Teilung Europas.
3. „Globalisierung“ und „Paradigmenwechsel“ stellen neue Aufgaben
Analog „Industrielle Revolution“ im 19. Jh. jetzt  techn.-ökonom.-kulturelle „Globalisierung“. Geschlossene Identitäten und „Welten“ gibt es nicht mehr. Globalisierung verursacht viel härtere Herausforderungen für Gesellschaftskultur als Europa-Integration.
Grundlegend neue Lage, „Paradigmenwechsel“: „Weltbewegende“ Effizienzen ermöglichen Sprengen der bisher festen Natur-Ordnung und darauf aufbauender Kulturen und Ethiken, das bewirkt zuerst Orientierungs- und Maßlosigkeit. → Verantwortung für ökosystemische Balancierung und für nachhaltig zukunftsfähige Lebenskultur. Wir brauchen Klärungen über anstrebenswerte neue Ziele und sinnvolle Umorientierungen.
4. Europa im globalen Wettbewerb um zukunftsfähige Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle
Ohne Vorstellung einer anstrebenswerten Zukunft, für uns konkret einer zukunftsfähigen europäischen Lebenskultur, wird Zusammenfinden Europas und die Mobilisierung und Bündelung der Fähigkeiten für die skizzierten Herausforderungen kaum gelingen.
Dafür sind Koordinaten zu klären:
Kein gutes Laben ohne konkurrenzfähiges wissenschaftlich-technisch-ökonomisches Wissen und Können, aber ebenso notwendig Sinn- und Orientierungswissen, „Weisheit“, auf gleichem Niveau. „Weisheit“ richtet Aufmerksamkeit auf „das unverkürzt Ganze“, nur so sind wesentliche Ziele, Prioritäten, Zusammenhänge, Rhythmen zu verstehen und umzusetzen.
Freiheitlich-pluralistische Demokratie, Wettbewerbs-Marktwirtschaft sind gesellschaftliche Organisationsformen mit hoher Eigendynamik, mit Wissen und Können sind Ziele anzusteuern. Anstrebenswerte Ziele, dafür angemessene Verfahren, Mittel, Regelsysteme sind unverzichtbare Klärungs- und Steuerungsaufgaben.
Soziale Sicherheit ist wesentlicher Pfeiler im europäischen Modell sozialer Marktwirtschaft. Sorgen sind hier berechtigt, rechtes Verständnis, nicht eingeschränkt auf „Versorgung“, ist wichtig
Rücksicht auf Umwelt und Nachhaltigkeit ist notwendige Konsequenz der hohen Effizienz. Leitbild „Nachhaltigkeit“ ist nicht auf Ökologie, nicht auf konservative Muster oder Reparaturkonzepte zu beschränken, sondern integriert ökologische Anliegen, Menschenrechte, globalen Entwicklungsausgleich, Friedenssicherung, wissenschaftlich-technisch-wirtschaftliche Innovation und Wohlstandsentwicklung  zu einer zusammenhängenden Zielprogrammatik.
Gestaltungsprinzip „Subsidiarität“: EU hat sich auf „Subsidiarität“ verpflichtet. Für wichtige politische, ökonomische und ökologische Anliegen brauchen wir das große europäische Dach. In unüberschaubar großen Räumen fühlt man sich aber ohnmächtig, entwurzelt, wird leicht zu „Treibsand“. Menschen brauchen die Beheimatung in überschaubaren Räumen.
Neugestaltung der globalen Außen-Relationen Europas: Auf der globalen Ebene gibt es nur schwache ökosoziale Ordnungsstrukturen. Diese Defizite nicht zu akzeptieren: Abgründe in der Welt sind human unerträglich, sie gefährden global die gesellschaftliche Stabilität, sind Triebkräfte der anschwellenden Migrationsströme, von Kriegen und Terrorismus.
Für eine europäische Lebenskultur ist ebenso wesentlich die Sensibilität für Unkaufbares, Unverzweckbares, für Zuwendung und Mitmenschlichkeit, für das unverrechenbar Schöne, Zerbrechliche und Unverfügbare. Deren Vernachlässigung verursacht rücksichtslose, eiskalte Zustände, Desintegration, ökologische und ökonomische Desaster.
Mit der rücksichtslosen Globalisierung und mit dem Einstürzen der Finanz-Kartenhäuser zerbrachen unersetzliche Vertrauensfundamente. Vertrauen ist nur durch verlässlichen Beziehungen zwischen allen Beteiligten wieder zu gewinnen. Versprechen von Markt-Ideologen, schrankenloser Egoismus und Marktkräfte würden selbsttätig den besten allgemeinen Nutzen erzeugen, machen Versprechungen wie einst die Alchemisten. Obszöne Diskrepanzen durch exzessive Vorteilsnahmen der Durchsetzungsfähigen und Lastenzuschiebung an Schwächere sind keinesfalls mit „Freiheit“ zu legitimieren.
Test für die Zukunftsfähigkeit Europas, ob und wie es zur Bewältigung dieser Krise beiträgt. Ein Rückfall in nationale Partikularismen und Egoismen wäre fatal. Chancen hat nur ein gemeinsam handlungsfähiges Europa. Die Grundüberzeugung, dass Lasten- und Vorteile fair zu verteilen sind, muss deshalb in allen Teilen Europas erhalten bzw. neu gewonnen werden. Andernfalls entstehen Motivations- und Reibungsverluste, die wir uns in Europa angesichts der globalen Konkurrenz nicht leisten können.
6. Die unverzichtbare Persönlichkeits-Entwicklung
Strukturen und Regelsysteme werden von konkreten Menschen entwickelt und gehandhabt. Ohne deren humane Formung kann keine Verbesserung der humanen Qualität in Gesellschaft und Wirtschaft gelingen. Die Zuständigkeit für die eigene Lebensgestaltung darf man sich nie und durch nichts abnehmen lassen, diese Freiheit ist Basis der persönlichen Würde und der Ethik.
Dieses Menschenbild und die entsprechende Gesellschaftsgestaltung sind entschiedene Positionen der europäischen Humanitätstradition die aus griechisch-römischen, biblisch-christlichen und europäischen Aufklärungs-Quellen gespeist wird. Bewusstsein und Freiheit sind entwicklungsbedürftige, verkümmerungsanfällige und deformierbare Potentiale.
Es gibt die Infragestellungen von Freiheit, Sinn und Würde durch Grenz- und Ohnmachts-Erfahrungen im Alltag, bei Schicksalsschlägen, im Altern und Sterben, diese werden in unserer Zivilisation oft verdrängt. Ohne Integration der unvermeidlichen Grenzen, der menschlichen Fragilität, Fehlbarkeit und Endlichkeit gelingt persönlich wie öffentlich keine menschenwürdige Lebenskultur.
In der Früh- und Hochphase der Neuzeit setzte man in den Wissenschaften wie im konkreten Denken und Handeln auf menschliches Gestalten und Freiheit. Jetzt entwickeln sich in den Wissenschaften und Lebensmustern starke Trends, die menschliche Gestaltungsfähigkeit und Verantwortlichkeit zu minimieren. Von Denkern und Künstlern wird sogar pessimistisch gefragt, ob wir Menschen möglicherweise weltbewegende Effizienzen entwickelt, damit aber unsere moralische Verantwortungskapazität definitiv überschritten hätten.
Mit angeschärfter Dringlichkeit stellen sich wieder die Grundfragen: Woher kommen, wohin gehen wir Menschen? Was ist zu hoffen, was zu befürchten? Deshalb neues Interesse für transzendente und religiöse Perspektiven, oft in postmodern gemixten Collagen. Unterschiede in Transzendenz-Vorstellungen haben aber erhebliche Konsequenzen: Die biblisch-christliche Sicht mutet im Unterschied zu manchen fernöstlichen oder esoterischen Vorstellungen die Wertschätzung jedes Menschen, aller Geschöpfe, der Welt, die schwierigen Wege der Lebens- und Weltgestaltung zu und gibt Hoffnung über den Tod hinaus.
Weder bei religiösen noch bei areligiösen Positionen genügen Proklamation und Bekenntnis. Deren Glaubwürdigkeit muss sich in der daraus erwachsenden Fähigkeit erweisen, schwierige persönliche und öffentliche Wirklichkeiten zu kultivieren, im Durchhalten der Hoffnung und Orientierung in schwierigen Lagen.
7. Zusammenfassung und Ausblick
Konkrete Integrations-Maßnahmen brauchen die Einbettung in ein zukunftsfähiges europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell, mit dem sich die Menschen identifizieren können.
In den Transformationsländern und in anderer Weise auch in den übrigen EU-Mitgliedsländern sind da noch erhebliche Bildungs- und Gestaltungsaufgaben zu leisten. Eine weiterentwickelte und praktizierte „Soziale Marktwirtschaft“ kann fundierte Hoffnung und Orientierung vermitteln, sowie die Eigenverantwortlichkeit der Führungskräfte und Bürger verbindlich konkretisieren. Konvergenzmaßnahmen müssen ausgewogen den Sichtweisen und Interessen der etablierten Mitglieder und der neuen Mitglieder entsprechen.

Eine wichtige Chance und ein Bewährungstest für Europa ist der Beitrag zur Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise. Wenn Europa bei den erforderlichen neuen Weichenstellungen versagt, verliert es weiter an globaler Relevanz und wird dann die zunehmende Fremdsteuerung durch andere Kulturen und Machtzentren aushalten müssen.
In neuen Synthesen von wissenschaftlich-technisch-ökonomischer Effizienz mit humanen Zielen und Werten liegen für Europa im globalen Wettbewerb durchaus Chancen: Die modernen Formen von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft nahmen einst von Europa ihren Ausgang, hier hat man die längsten positiven wie negativen Erfahrungen damit.
Daraus ergibt sich Chance und die Pflicht, nach so vielen „Lehrjahren“ - früher als andere – einen zukunftsfähigeren, Sinn- Wert- und Verantwortungs-orientierten Umgang mit Wissenschaft, Technik und Wirtschaft zu entwickeln.
Vgl. aus dem europäischen kulturellen Erbe den Mythos von König Midas, dem von Gott Dionysos die Erfüllung eines Wunsches zugesagt wurde. Er wünschte sich, dass sich alles, was er berührt, in Gold verwandle. Tatsächlich wurde alles von ihm Berührte, Gegenstände, Menschen, Tiere, Wasser, Blumen ..., zu Gold, glänzend, hart, leblos. Angesichts der lebensbedrohlichen Folgen wollte Midas von dieser Wunscherfüllung wieder befreit werden, aber das war nicht leicht ... Eine aktuelle Midas-Version aus dem Internet: „Das Land des König Midas ist heute das Silicon Valley, die Wunscherfüllung ist die digitale Technologie. Alles, was der moderne Midas berührt, wird solange ins Digitale und Virtuelle verwandelt, bis die analoge Welt verschwunden und das wirkliche Leben in digitalen Schein aufgelöst ist ...“.
Bewusst wurde auf die Abnahme des Subjekt- und Verantwortungsbewusstseins in den spät- bis postmodernen Wissenschaften, Denk- und Lebensmustern und die damit verbundene Hoffnungsarmut und Orientierungsunsicherheit hingewiesen. In dieser Lage ist die Vergewisserung der tiefen Wurzeln, Inspirationen und Horizonte unseres Menschseins für die persönliche und öffentliche Lebenskultur keine Nebensache.
In der europäischen Geschichte haben dafür Christen und christliche Kirchen gewichtige Beiträge geleistet, auch wenn sie manches schuldig geblieben und in wichtigen gesellschaftlichen Belangen auch schuldig geworden sind. Jetzt sind wieder Hoffnungspotentiale sowie voranführende, umsetzbare Konzepte und Praxen gefragt.
Faktisch wird allerdings die Wirksamkeit der christlichen Inspiration und die Vitalität der christlichen Kirchen in Europa schwächer, weniger Menschen orientieren sich christlich. Das hat bedeutende Folgen und wirft gewichtige Fragen auf: Christen und Kirchen müssen sich fragen, wie sie wieder an Vitalität und Relevanz gewinnen können. Für die anderen stellt sich die Frage, wer und was bei den fundamentalen Sinn- und Orientierungsfragen an die Stelle der schwächer werdenden christlichen Orientierung tritt.

Gleich-Gültigkeit in wichtigen Grundfragen macht gleichgültig und gibt wenig Motivation und Kraft für die Bewältigung der anstehenden großen Herausforderungen